Mein kleiner Bruder Ich hatte mir schon immer einen kleinen Bruder gewünscht. Einen Bruder zum spielen, zum reden, zum rumalbern, zum diskutieren. Einen Bruder der zu mir aufschauen könnte, einen Bruder der mein Verbündeter sein sollte. Ich kann mich an einige Kinder erinnern, die meine Eltern Tags über zur Pflege nahmen, an die Kinder die wir auch über einen längeren Zeitraum in unserem Haus hatten. Doch irgendwann mussten sie alle fort, zurück zu ihrer wirklichen Familie. Und in dieser Zeit hatten meine Schwester und ich uns einen Bruder gewünscht der bei uns blieb, für immer. Und irgendwann war es soweit. Meine Eltern hatten beschlossen ein Kind bei uns aufzunehmen das bei uns bleiben sollte und nie wieder gehen würde. Ich weiß noch wie wir gelacht haben als die Frau vom Jugendamt bei uns am Esszimmertisch saß und uns verriet, das der Junge den gleichen Namen trug wie mein Vater. Und ich kann mich daran erinnern wie meine Mutter öfters im Krankenhaus war um den kleinen Jungen zu besuchen, damit er sich an sie gewöhnen konnte. Wenn man sich das im Nachhinein vorstellt ist es grausam. Es ist grausam daran zu denken das ein Säugling mit einem Herzfehler geboren wird, die Ärzte es operieren müssen weil es genau verkehrt herum in seinem Brustkorb liegt. Es ist grausam das ein Baby die ersten 7 Monate seines Lebens im Krankenhaus verbringen musste und etwas wie Menschennähe nur durch die Krankenschwester kennen gelernt hatte die ihm die Flasche gaben und ihn vielleicht ab und zu, wenn überhaupt auf den Arm nahmen. Doch zu diesem Zeitpunkt war mir das nicht klar, viele Dinge waren mir nicht klar. Alles was ich mir wünschte, was wir uns wünschten war ein kleiner Bruder, ein neues Mitglied in der Familie. Er war da. Wenn ich mir alte Fotos oder Videoaufzeichnungen von damals anschaue fällt es mir leichter mich an diese Zeit zu erinnern. Er war winzig, ganz blass und sein Kopf war hinten ganz platt durch das lange liegen in der Krankenhauswiege. Er nuckelte an seinen Zeige- und Ringfinger gleichzeitig anstatt an seinem Daumen. Wir waren glücklich, alle waren glücklich und ich glaube wir waren das Beste was diesem kleinen Wesen passieren konnte. Aber irgendetwas entwickelte sich nicht so wie es eigentlich sein sollte. Er war das erste Baby, außer meiner fast gleich alten Schwester, dass ich wirklich aufwachsen sah und irgendwann wurde klar das etwas nicht stimmte mit ihm. Das Sprechen viel ihm schwer. Wenn dann sprach er sehr wenig und wenn dann sehr unverständlich. Im Nachhinein weiß ich nicht ob es vielleicht normal für ein Kleinkind ist, zu Fantasiewörter erfinden und in den ersten Jahren, Gegenstände oder Personen mit ihnen zu benennen, doch über die Jahre wurde klar das alles in seiner Entwicklung sehr lange dauerte. Er wurde im Laufe der Jahre Meister darin, alles was er in die Finger bekam kaputt zu machen, Spielzeug hielt bei ihm nicht sehr lange und ich weiß noch wie unser Vater jedes Mal schimpfte wenn er auf seinem Fahrrad eine Vollbremsung hinlegte und die Reifen wieder mal ein neues Loch vorwiesen. Er hatte Wutausbrüche, er zerschlug mit seinen Spielzeugautos die Glastür zu meinem Zimmer. Es gab ständig Probleme mit seiner Schulsituation, erst hatte er ständig die Kindergärten wechseln müssen und unsere Eltern mussten sich jedes Jahr neu überlegen welche Schule für ihn wohl am besten wäre. Er wuchs und wurde älter. Und stärker. Irgendwann fing er an mich und meine Schwester mit den schlimmsten Schimpfwörtern zu beleidigen. Wir konnten nicht ganz verstehen was mit ihm los war und oft wünschte ich mir er würde endlich etwas mehr Respekt unseren Eltern gegenüber zeigen. Doch dies blieb aus. Oft klingelten die Nachbarskinder bei uns um sich bei uns über sein schlechtes Verhalten zu beschweren. Ich wusste das ihre Eltern über ihn redeten. Und ich schämte mich weil sie wo möglich die Erziehung unserer Eltern in Frage stellten. Ich kann mich an unseren verzweifelten Vater erinnern, der eigentlich immer auf alles eine Antwort weiß. Nur hier war auch sein Latein zu Ende. Ich kann mich an unsere gestresste Mutter erinnern, die jeden Tag mit den Ticks und Anfällen meines heranwachsenden Bruders zu kämpfen hatte, ihn aber trotzdem immer in Schutz nahm.
Nun ist er in der Pubertät. Er ist nun genauso groß wie ich und er hat Kraft. Ich mache mir immer Gedanken darüber was passiert wenn er stärker wird als ich oder unser Vater. Ich habe manchmal Angst davor ihn mit unserer Mutter alleine zu lassen, weil ich nicht da sein kann um sie zu beschützen. Die Respektlosigkeit mir und meiner Schwester wird immer größer und unsere Mutter pöbelt er inzwischen genauso an wenn ihn irgendwas nicht in dem Kram passt. Der Einzige der noch an Kontrolle über ihn verfügt ist unser Vater, doch muss ich manchmal beängstigend mit anschauen, wie mein Bruder auch ihm Gegenüber aufmüpfig wird und hinter seinem Rücken schlimmste Beleidigungen ausspricht. Nun wissen wir aber sicher was er hat, wo durch er das geworden ist womit wir jeden Tag zu kämpfen haben. Es war nie ein Geheimnis das seine Mutter während der Schwangerschaft Alkohol getrunken hatte, jetzt war der Name der Krankheit klar. Unseren Eltern wurde immer bewusster das er nichts dazu konnte.
Mit den Jahren haben sich auch die Probleme verändert die im Zusammenhang mit seiner Krankheit entstehen. Auch wenn er immer noch sehr impulsiv sein kann, hat mein Bruder wohl doch einen Weg gefunden sein Temperament zu zügeln. Manchmal beobachte ich ihm beim malen und das alt bekannte Kindergekritzel ist einem Strich gewichen mit welchem ich selbst nicht mithalten kann. Es gibt Momente da kann man sich vernünftig mit ihm unterhalten, wir sitzen dann vor meinem Computer und er lernt die Wochentage an einem Lernprogramm. Man merkt ihm seine Veränderungen an. Mit seiner Körpergröße hat er mich schon langsam eingeholt, seine Stimme ist dunkler geworden, sein Gesicht wirkt weniger kindlich. Manchmal können wir über die Schule, Autos oder auch über Mädchen reden. Doch ich muss jedes mal feststellen wie kurz sein so genannter Weitblick ist. Aber trotzdem betrachte ich diese Gespräche als ernst, weil ich denke das er mit zunehmenden Alter auch ernstgenommen werden will. Die Probleme werden anders. Auch wenn es zwischenzeitlich noch Beschwerden aus der Schule oder von Nachbarn gibt, sind sie doch weniger geworden. Mir selbst ist aufgefallen das sein Verhalten immer davon abhängig ist mit wem er seine Zeit verbringt. Ich glaube er wurde stark von den verschiedenen Schulen und ihren Schülern beeinflusst. Ich denke ein großer Teil tragen auch einige Nachbarskinder bei, die sich ähnlich verhalten wie er und sie ebenfalls auffällig verhalten. Ich denke dieses Umfeld war die Quelle der Schimpfwörter, Umgangsformen und Verhaltenweisen die mein Bruder zu Tage legt. Er sitzt nun nicht mehr vorm Fernsehrgerät und schaut sich die Teletubbies an. Er schaltet ziemlich oft auf die Musikkanäle um ein Lied seines Lieblingsrapper zu erwischen, welcher in seinen Videoclips mit geladener Pistole rumläuft und darüber singt wie toll es ist Leute zu verletzten. Nun trägt meine Bruder breite Hosen und Silberketten. Des öfteren werde ich Abends rausgeschickt um meinen Bruder in der Nachbarschaft zu suchen um ihn zu essen zu holen. In letzter Zeit entfernt er sich immer weiter von zuhause um sich mit seinen Kumpels zu treffen. Einen Umgang den unsere Eltern nicht gerne sehen. Ich bin ins Auto gestiegen und nach einer Weile sah ich ihn von weiten mit seinen Freunden im Park stehen. Er rauchte.
Ich denke, auch wenn es viele Brüche in unserer Familie gab, auch wenn so manche Träne wegen meinem Bruder gegeben hatte, hat mich seine Gegenwart all die Jahre positiv geprägt. Auch wenn ich wusste das Andere über ihn schlecht redeten und ich viele Male aus Scham schlucken und die Zähne vor Zorn zusammenbeißen musste, hat es mich doch auf eine gewisse Art und Weise „abgehärtet“. Ich glaube viel Geduld anderen Kindern aufbringen zu können, die quengeln und ihren Willen durchgesetzt haben wollen. Ich glaube wirklich das ich diese Geduld und auch mein eigenes Durchsetzungsvermögen, Kindern aber auch anderen geistig und körperlich behinderten Menschen gegenüber zum Teil meinem Bruder zu verdanken habe. Manchmal denke ich mit einem Lächeln, daß ich es mit jedem noch so widerspenstigen Kind aufnehmen könne, da ich ja mit dem Härtefall aufgewachsen bin. Mit der Entwicklung meines Bruders wird auch die Veränderung in unserer Familie kommen und seit nun ungefähr zwei Jahren stellt sich die Frage was aus ihm werden soll. Unsere Eltern bemühten sich um einen geeigneten Heimplatz für ihn und diese Entscheidung erfüllt uns, obwohl sie am vernünftigsten ist mit Trauer. Nun steht sein einiger Zeit fest, dass er in einem Heim unterkommt das bei uns in der Nähe ist. Und ich weiß wir werden da sein um ihn zu besuchen. Früher einmal hatte ich die romantische Vorstellung, dass die Probleme eines Tages mal verschwinden würden und das ich später nach meinen Eltern die Verantwortung für ihn übernehmen könnte. Diese Vorstellung bekam ich vor allem durch Hollywoodfilme die behinderte Menschen nur von ihrer niedlichen Seite darstellen. Doch will ich trotzdem für ihn da sein, ihn zur jährlichen Kirmes abholen und mit ihm über Schule, Autos und auch über Mädchen sprechen. Ich weiß nicht wie er diese Umstellung verkraften wird, denn er wird trotz seines starken Körpers und seiner immer männlich werdenden Erscheinung ein Kind bleiben. Und dies ist etwas grausames was ich niemanden zumuten will, die Unwissenheit und die ständige Abhängigkeit zu Menschen die sich um ihn kümmern. Und auch wie viel Kummer und Sorgen er uns bereitet hat, er bleibt mein Bruder, ein Teil unserer Familie und er wäre wohl wirklich arm dran wenn er das was er so oft beschimpft nie kennen gelernt hätte.
Benjamin/19 Jahre
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