Erlebnisse, Aussprüche und Widersprüche
(Name geändert)
Tim (4 Jahre) muss zum Zahnarzt, weigert sich aber den
Mund zu öffnen. Irgendwann gibt der Zahnarzt auf.
Beim nächsten Besuch das gleiche Spiel. Das wiederholt sich 5 Mal in 2 Wochen.
Dann der 6.Besuch, der Zahnarzt, durchaus vertraut mit Kindern und sehr
behutsam, beginnt wieder jedes Gerät zu erklären und was es bewirkt.
Tim unterbricht ihn sichtlich genervt: "Ja los, warum fängst Du nicht einfach
an!"
Er ließ sich ohne einen Mucks zu sagen, 3 Zähne behandeln.
Tim(4 Jahre) ist mit uns in einem großen Supermarkt mit
Zooabteilung. Ein Mitarbeiter
der Abteilung wechselt das Wasser in einem Aquarium. Um das Wasser
abzulassen, hing aus dem Aquarium ein dünner
Schlauch. Blitzschnell nimmt Tim den Schlauch in den Mund und nimmt einen
kräftigen Schluck. Alle sind entsetzt, der Verkäufer erklärt, dass sich ein
Antipilzmittel im Wasser befindet und macht uns Vorwürfe, dass wir nicht aufgepaßt haben.
Tim: "Du hast Schuld, weil Du hast da ja extra einen Stohhalm reingemacht."
gesundheitliche Folgen hatte dieser Schluck nicht
Ambulante Sprechstunde in der Kinder-und Jugendpsychiatrie
Tim(9Jahre) beginnt unruhig zu werden, weil die Anmeldung so lange dauert und
wird von der Sprechstundenhilfe in`s Wartezimmer
geschickt. Nach kurzer Zeit kommt er empört zurück:
"Das ganze Wartezimmer ist voll mit Chinesen und die sprechen japanesisch"
(eine asiatische Familie mit 3 Kindern wartete dort)
Nina (6 Jahre) hat sich riesig über ihren kleinen
Pflegebruder gefreut und betrachtet ihn ganz gerührt, wie er mit roten Bäckchen
fest schläft. Sie fasst mich an die Hand und sagt: "So viel Liebheit auf einmal
habe ich noch nie gesehen"
(so liebevoll hat sie später nie wieder von ihm gesprochen)
Tim ca.7 Jahre, ist bei der Omi zu Besuch und stellt
irgendwas an. Omi ist ziemlich sauer und hält ihm eine kräftige
Standpauke. Tim schaut sie mit großen Augen an und grinst, das macht
die Omi noch wütender. Zu Hause erkläre ich
ihm, dass man so etwas nicht macht und er sagt: "Wenn ich so blöd lache, dann
weine ich in Wirklichkeit"
Heute wissen wir, dass er Probleme hat, seine Gefühle und seine Mimik zu
koordinieren.
ein paar Monate später Tim wieder bei Omi zu
Besuch, ist mit dem Fahrrad gefallen. Abends, als er ins Bett
soll, erklärt er der Omi.
"Ich habe mir wohl doch wehgetan, jedenfalls ist
meine Litfaßsäule gebrochen."
Tim (9Jahre)ist mit uns in einem großen
Lebensmittelmarkt und begegnet einem Jungen, der mit ihm gemeinsam durch die Gänge
rast. Die Mutter des Jungen schimpft mit ihrem Sohn. Tim zu der Mutter: "gib
ihm lieber ne Ritalin"
Die Mutter fragte uns, wie der Junge darauf kommt, ihr Sohn hatte ebenfalls ADHS.
Tim hat immer sofort bemerkt, wenn andere Kinder
ähnliche Probleme hatten.
Tim (17 Jahre) ist bei der Aufnahmeuntersuchung im
Krankenhaus, weil er einen Nierenstein hat. Der Arzt fragt ihn, ob es in der
Familie schon mal Nierenprobleme gab. Tim: "Ja, meine Mutter (ich) hatte auch
schon mal einen Nierenstein". Ich erkläre dem Arzt, dass Tim nicht mein leibl.
Kind ist. Darauf sagt Tim: "Ach ja, dann habe ich den wohl nicht geerbt "
Noch mal gleiches Krankenhaus. Beim Besuch frage ich
Tim, ob noch Untersuchungen oder Behandlungen stattgefunden haben. Er antwortet:"Ja, der eine Arzt, äähm.....,Du weißt schon, der Pikinese, hat
mir Salzsäure in den Arm gespritzt"
Alles klar, der pakistanische Arzt mit dem schwierigen Namen hatte ihm
Kochsalzlösung gespritzt.
Tim 6 Jahre ist mal wieder furchtbar wütend auf mich und
sagt, er wolle lieber wieder ins Heim oder zu einer anderen Familie. Ich sage
ihm, dass ich es besser fände, wenn er bei uns bleibt. Seine Antwort: "Du
hast ja nur Angst, dass Du Dir einen neuen Jungen holen mußt, der nichts
findet." Ich mußte zuerst über die Antwort nachdenken, aber dann war
es klar. Häufig passierte es mir oder auch den anderen, dass wir etwas verlegen.
Tim war derjenige, der immer alles wieder fand, wofür wir ihn dann auch
entsprechend lobten.
Tim (17Jahre)kommt angetrunken nach Hause und ist recht
aggressiv. Er beschimpft uns in übelster Fäkalsprache und erklärt
er wisse nun, warum wir ihn aus dem Heim geholt hätten. "Ihr brauchtet
jemanden zum Kaffeekochen."
Als er jünger war, war er ein ausgesprochener Frühaufsteher, auch am
Sonntag, der Rest der Familie schlief lieber länger. Um
uns aus dem Bett zu locken, hat er immer schon den Kaffee gekocht, oft schon
Sonntags um 6.ooUhr morgens.
die große Angst vor der Gruppe
mit 5 Jahren wird Tim zum Schwimmkursus angemeldet. Schon in der ersten
Stunde sondert er sich sichtbar von den
anderen Kindern ab. Der Kursleiter versucht ihn zu integrieren,
vergeblich. Wir sind am zweifeln, ob es noch zu früh für ihn ist,
aber mit jeder Stunde macht Tim Fortschritte. Einige Kinder sollen den Kurs
wiederholen, weil sie noch nicht richtig schwimmen
können. Tim kann schwimmen. Die Kinder, die es ebenfalls gelernt haben,
dürfen ins Wasser springen. Einige trauen sich einen Sprung vom
Rand, ganz mutige vom Startblock. Nur einer klettert auf das 3m-Brett und das
ist Tim. Als er da oben steht, bekommt er Panik, aber nicht
wegen der Höhe, sondern weil ihn alle anstarren. Vor lauter Verlegenheit
springt er ohne lange zu überlegen.
FAS und Gefühle
im Juli war Tim am Wochenende zu Besuch bei uns. Am
Sonntagmorgen, als ich in die Küche ging, sah ich unsere Katze im Kippfenster
hängen. Durch meinen Schrei wachte die ganze Familie auf und kam runter.
Irgendjemand hatte sie wohl aus Versehen nachts dort eingesperrt. Meine
Tochter und ich fuhren mit der halbtoten Katze zum Tierarzt.
Die Katze hatte sich die Nieren gequetscht und starb noch beim Tierarzt. Wieder
zuhause erschien Tim, aber fragte nicht nach der Katze. Ich erzählte ihm,
dass die Katze tot sei, er zuckte nur die Achseln, drehte sich um und ging in
sein Zimmer um weiter Playstation zu spielen. Wir waren etwas erstaunt, dass
ihm das so egal zu sein schien. Tim hatte immer engen Bezug zu unseren Tieren.
Am
Abend in der Einrichtung hat er die ganze Zeit von der Katze und ihrem
qualvollen Todeskampf gesprochen.
Mit uns zusammen konnte er nicht trauern,
konnte nicht seine Gefühle zeigen. Vielleicht hat es auch nur gedauert bis er
verarbeitet hat, was da passiert war.
So etwas haben wir schon häufig erlebt. Er kann sich zwar
wahnsinnig freuen und das auch zeigen, wenn es um etwas materielles geht, aber
wenn es um Gefühle geht, ob er richtig glücklich oder auch traurig ist, läßt er
sich nicht anmerken, es sei denn er hat Alkohol getrunken, dann kommt es raus.
Widersprüche
von Fachärzten und auch vom Arbeitsvermittler wird Tim als ausgesprochen
phantasiearm mit geringen Wortschatz eingeschätzt.
Ein Freund von Tim hatte ein Walkie Talkie, die
beiden Jungen haben sich mit dem einen Gerät im Gebüsch versteckt, das andere
haben sie im Altpapier versteckt. Wenn Leute vorbeigingen, ertönte es aus dem
Altpapier: "Hier spricht Dein Altpapier, nimm mich mit, nimm mich mit, sonst
werde ich morgen erpresst"
Tim hatte einen Kassettenrekorder mit Mikrofon. Es war
für ihn kein Problem im Zimmer so lange Radau zu machen, bis mein Mann
hochging und furchtbar schimpfte. Tim hat das dann aufgenommen. Stunden
später ließ er es in voller Lautstärke abspielen und lachte sich halbtot.
(wir haben mitgelacht, da kann doch keiner ernst bleiben)
Tim kam auffällig früh aus der Schule und ich fragte warum
das so sei.
Dann beschrieb er mir in allen Einzelheiten wie es seinem Lehrer schlecht
geworden sei. Er zeigte mir sehr anschaulich wie der Lehrer die Augen verdreht
hat und zusammengesunken ist. Der Klassensprecher habe Hilfe im Sekretariat
geholt und der Notarzt habe dem Lehrer eine Infusion gelegt und ihn zur
Beobachtung mit ins Krankenhaus genommen. Das beschrieb er zwar mit seinen
Worten, aber so anschaulich und logisch, dass ich keinerlei Zweifel hatte, auch
glaubte ich ihm, dass der Lehrer auch am nächsten Tag noch nicht da wäre und
deshalb keine Schule sei. Am nächsten Tag so gegen 13.00Uhr rief mich genau
dieser Lehrer an und fragte warum Tim seit 2 Tagen nicht zur Schule gekommen
wäre. Ich erzählte dem Lehrer was Tim mir berichtet hat. Der Lehrer sagte, ihm
sei vor 3 Jahren im Unterricht mal etwas schwindelig gewesen und er habe
ein Glas Wasser trinken müssen, aber sonst sei noch nie so etwas vorgefallen.
Für Tim hatte das eine saftige Strafarbeit und noch engere Kontrolle zur
Folge. Hat aber trotzdem nichts gebracht. Woher er wußte, wie ein Notarzt bei
einem Kreislaufzusammenbruch reagiert und sonst noch alles, weiß ich bis heute
noch nicht. Tim sah ausgesprochen selten fern.
Ich könnte noch viele solcher Geschichten aufzählen, die er uns aufgetischt hat,
um Fehlverhalten zu erklären.
Herkunftsfamilie
die ganzen Jahre hat sich aus seiner Familie nie jemand
gemeldet, es gab nie BK`s oder ähnliches. Nur durch das Jugendamt wußten wir,
dass die Mutter geheiratet und mit dem Mann noch 4 Kinder bekommen hat. Ich habe
Tim öfter mal gefragt, ob er denn nicht mal seine Mutter und Halbgeschwister
kennen lernen will. Reaktion: wie oben bei der Katze beschrieben, Schulter zucken, hilflos
lächeln und schnell das Thema wechseln.
Ich habe dann mal etwas weiter gefragt, warum er mir nicht antwortet. Seine
Antwort: "Ich habe Angst, dass die dann alle da stehen und mich in den Arm
nehmen wollen". Wahrscheinlich hat er so was mal in diesen "besch..."
Talkshow`s gesehen. Er hat immer panische Angst im Mittelpunkt zu
stehen.
Herkunftsfamilie und Alkoholprobleme
im Frühjahr hatten wir den dringenden Verdacht, dass Tim
sehr regelmäßig trinkt und kifft. Er wurde dann für einige Tage zur Entgiftung
geschickt. Da er keine Entzugserscheinungen hatte und sich auch sonst recht
kooperativ verhielt, durfte er die Abteilung, aber nicht die Klinik, verlassen.
Deswegen sind ihm auch Patienten anderer Abteilungen begegnet.
Einige Tage später zuhause erzählte er mir dann ganz verschämt:
"Du Mama, ich glaube, ich habe meine Mutter gesehen. Die Frau war auf der A7 und
sah genauso aus wie die Frau auf dem Bild."
Tim weiß um die Alkoholprobleme seiner leibl. Eltern und auch, dass seine
Mutter vermutl. in der Schwangerschaft getrunken hat. Wir haben ein einziges
Bild von der Mutter mit Tim auf dem Arm. Das Bild ist von 1988. Ob die Mutter
jetzt noch Alkoholprobleme hat, wissen wir nicht. A7 war die Station für schwere
Alkohol- und Drogenabhängige.
Es ist das einigste Mal, dass Tim von sich aus
über seine leibl. Mutter gesprochen hat, aber wie oft er darüber nachdenkt
wissen wir nicht.
|